One line

Silvia Rosani: T-O

für zwei Soprane, Countertenor, Tenor und Bass

(2013)

Silvia Rosani stammt aus Triest, bedeutende Hafen- und Handelsstadt schon in der Antike und heute eine der multikulturellsten Städte Italiens, die sich seit der Öffnung der Europäischen Union nach Osten aus ihrer Randlage in eine wichtige Durchreise- und Aufnahmestation für viele Menschen aus Osteuropa verwandelte. Silvia Rosani verbringt aber auch viel Lebenszeit in Apulien und wird dort mit der bedrückenden und desolaten Situation afrikanischer Flüchtlinge konfrontiert, denen es gelungen ist, übers Mittelmeer nach Italien zu gelangen. Ihnen, denen sie in den Flüchtlingscamps»Ghettos«, wie die Bewohner selbst sagenauch persönlich begegnet, widmet sie ihr Werk T-O: jenen, die in Europa gestrandet sind, jenen, die ihr Ziel nie erreichen und jenen, die es zwar physisch erreichen können, aber mental nie wirklich ankommen.
»T-O« ist der Name einer frühmittelalterlichen Weltkarte, auf der die drei damals bekannten Kontinente Asien, Europa und Afrika vom Ur-Ozean umspült und durch das »große« und das »mediterrane« Meer getrennt werden. Letzteres ist durch die kurze Linie des Buchstaben »T« repräsentiert und trennt Afrika von Europa. Das »T« steht in der Interpretation damaliger Kirchenväter aber auch für »Theos« (Gott) und »O« für den Okeanus, eine säkulare Interpretation sah das »Terrarum Orbis« darin. Aber das Bild diente auch zur Beschreibung von Feldzügen der Römer gegen Afrikaund das ist der Anlass für die Komponistin, die Karte als Sinnbild für ihr Stück zu wählen.
»Heute stellt sich die Frage«, so Silvia Rosani, »wie die Überfahrt den weiten Raum des Meeres verwandelt, wo die Klänge eine lange Reise machen, in die engen Grenzen des Bewusstseins hinein, in dem Gedanken und Erinnerungen sich vervielfachen und in einem zwanghaften Mechanismus echoartig wiederholen. Manchmal kann das physische Ziel erreicht werden, aber das Meer-Monster mit seinen sieben Köpfen und zehn Hörnern, das die Christenheit in der Apokalypse beschrieb, um von der Seefahrt abzuschrecken, wird zur widerhallenden Wahnvorstellung.«
Den »weiten Raum des Meeres« schafft Silvia Rosani durch eine große Distanz zwischen den beiden Sängergruppen im Saal. Zwei hohe Stimmen verkörpern die Reisenden, und über das Publikum hinweg entspinnt sich ein Spiel von Rufen und Antworten mit den drei anderen Sängern (sind es am Ufer Wartende, sind es die Echos der Felsen?). Es öffnet sich ein Hallraum für subtile Klänge, die die Komponistinganz in der Tradition italienischer Meister der Klangsinnlichkeitfindet, um eine Traumwelt zu zeichnen, einen Schwebezustand zwischen posttraumatischer Apathie und dem herantastenden Ankommen in der Wirklichkeit.
Es sind Klänge, die sich herausschälen aus dem durch Atem- und Zischlaute imaginierten Meereswind an Deck des Schiffes, auf dem die Reisenden ihrem Ziel entgegenblicken, Klänge, denen man das Zögern der Flüchtlinge anhört, deren Bewusstsein sich irgendwo in der Weite des Meeres verloren hat.

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Die Komposition entstand im Rahmen eines Kooperationsstipendiums der Akademie Schloss Solitude