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Josep Sanz: IRR_STUDY#2

für fünf entfernte Stimmen

(2013/2014)

Zäsuren oder Richtungsänderungen im künstlerischen Leben eines Komponisten können, wie bei Zad Moultaka, zu überraschenden Ergebnissen führen. Josep Sanz fasste unlängst den Beschluss, »tabula rasa« zu machen. Er stellte die grundsätzliche Frage nach dem Sinn und Zweck von Kunst und definierte seine Prämissen einer Kunst-Musik: Sie sollte irregulär, irrational, »irreveren« (ehrfurchtslos), irritierend sein. So begann er seine Reihe der IRRStudies.
Der Kern eines ersten Werkes für zwei in unterschiedlichen und irrwitzigen Tempi singende und spielende Pianisten mit Keyboard und Schlagzeug war das Irrationale der Tempovariationen, das quasi zur Unspielbarkeit des Stückes führte. Dieses Phänomen interessierte ihn, und er nahm es zum Ausgangspunkt für die IRR_Study#2, die nun für Mediterranean Voices entstanden ist. Allerdings entband er die Sänger von dem Problem, etwas Unsingbares zur Aufführung bringen zu müssen. Er versetzte sie in die Passivität der reinen Materialgeberschaft und zog die Schraube der virtuosen Verwicklungen im eigenen Studio weiter an. In einem ersten Arbeitsschritt ließ er die Sänger die Grundelemente des Stücks, unterschiedlichste musikalische Gesten und Einwürfe, in Bild und Ton aufnehmen und verarbeitete sie im zweiten Schritt im Studio zum übervirtuosen, von vielen »Irrs« geprägten, nur noch medial wiederzugebenden Werk.
Das Bild des einsamen Künstlers drängt sich auf, das in Spanien nach dem Zusammenbruch des Finanzsystems und damit auch der Kunstförderung durchaus realistisch istvollends bei einem Katalanen, der sich bewusst und entschlossen vom Mutterland Spanien distanziert. Sanz verbannt die realen Interpreten auf Videoscreens und macht sich damit unabhängig von nicht vorhandenen Konzertveranstaltern. Er kann sein Werk, eine installative Performance, die sich aber durchaus noch in der live interpretierten Konzertsaal-Musik verortet, zu jedem Zeitpunkt und unabhängig von lowesten Budgets aufführen.
Die Partitur für den ersten Teil des Entstehungsprozesses bestand aus fünf ähnlich strukturierten Solopartien für die Sänger. Es waren kurze Fragmente eines virtuellen Musikstückes, dessen Charakter Sanz selbst zu diesem Zeitpunkt noch nicht kannte, stand doch das eigentliche com-ponieren der Klänge und Motive noch bevor. Der offene Ausgang seiner Studie war Josep Sanz wichtig: »Wenn ich schon klar weiß, was ich schreiben will, wenn ich alle Schritte des Prozesses kenne und weiß, wie die Sache am Ende klingen soll, dann ist es für mich nicht interessant zu komponieren. Der Weg ist für mich wichtiger als das Resultat am Ende.«
Die Spielanweisungen für die Sänger ließen auf eine theatrale Absicht schließen: »with fury«, »with energy but not angry«, »observing a beautiful landscape«, »humorous, funny«, »cold, stoical«, »with internal violence«, »unquiet, nervous«, »yelling like a vegetable seller«, »religious«, »explaining something important«, »angry«, »invoking, peaceful«, »lament«, »disgusting«.
Man ahnt es: Das Mittelmeer mit seinen Temperamenten, Befindlichkeiten und Klischees stand Pate beim Ideenvorrat für das spätere Stück, für das der Komponist zudem eine Art Esperanto des Mittelmeers erfand »mit der Intention, irgendwie die phonetischen Qualitäten der Mittelmeersprachen zu erreichen«.
Mit der Endmontage erhielt IRR_Study#2 einen dramaturgisch schlüssigen, fast narrativen Verlauf. Überlagerungen von Loops aus verschiedenen Motivkonstellationen führen zu Energieauf- und -entladungen, es gibt Steigerungen, Verdichtungen, eine Stretta, eine Art Coda. Und doch entstehen merkwürdige Diskrepanzen: vor allem die Inkohärenz von visueller und akustischer Dynamik, eine Unruhe, die sich durch das Zappen der Bilder ergibt, die aber akustisch oft gar nicht nachvollzogen wird, weil die Klänge der Einzelmotive ineinander übergehen. Durch das Abschneiden der Ein- und Ausschwingvorgänge erhalten die Vokalklänge eine fast elektronische Anmutungund behalten dennoch einen theatralischen Gestus. Und obwohl die Sänger völlig isoliert und unabhängig agieren, spürt man ihre kammermusikalische Zusammengehörigkeit, eine unabgesprochene, aber doch gemeinsame Vorstellung von Klang und dramatischer Geste.
Diese Diskrepanzen nimmt der Komponist bewusst in Kaufund sie werden sogar zur Metapher: »Die Idee von Distanz war eine Ur-Idee des Stücks. Wir haben bereits im ersten Symposium der Mediterranean Voices über ‘das Mediterrane’ gesprochen. Für mich war es sehr wichtig, die Distanz und gleichzeitig die Nähe zu beschreiben, die uns zu Freunden macht. Wir kennen uns nicht, aber auch wenn wir nicht die gleiche Sprache sprechen, gibt es dennoch eine ‘Freundschaft’ des Mediterranen.«

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Der Kompositionsauftrag wurde gefördert von der Ernst von Siemens Musikstiftung