One line

Elena Rykova: On the Shore of Shattered Time

für Mezzosopran, Countertenor und Bass

(2021)

In meiner kompositorischen Miniatur »on the shore of shattered time« stammt die Frauenstimme aus einer Improvisation, die ich aufgenommen habe, als ich in eine kleine Trommel hineinsang und hörte, dass das Instrument dabei bestimmte Frequenzen meiner Stimme verstärkte. In meiner Komposition wird dieser verstärkende Part von den beiden männlichen Stimmen ausgeführt. Die Rollen sind auch nicht strikt voneinander getrennt, sondern stehen in einer fein gewobenen, polyphon strukturierten Beziehung zueinander, konzentriert auf ein Register, in dem sich alle drei Stimmen überschneiden und so den Klang-Raum miteinander teilen können.

 

Die Stimme ist ein Macht-Instrument. So beschreibt die amerikanische Schriftstellerin, Journalistin und Kulturhistorikerin Rebecca Solnit die Stimme als die Befähigung, sich »sich zu Wort zu melden, teilzunehmen, sich als freie Person mit Rechten zu erleben und erlebt zu werden. Dazu gehört nach der Auffassung Solnits auch das Recht, nicht zu sprechen, sowie das Recht, nicht gefoltert zu werden, um zu gestehen, wie es bei politischen Gefangenen der Fall ist, oder dass man nicht erwartet, Fremden, die sich einem nähern, zu Diensten sein zu müssen, so wie manche Männer von jungen Frauen Aufmerksamkeit und Schmeicheleien erwarten und zu Bestrafungen neigen, wenn diese Aufmerksamkeit ausbleibt. (Aus: «Silence is Broken” in, »The Mother of All Questions«, 2017).

 

Allein die Existenz unserer Stimmen erinnert uns an unser Menschenrecht auf freie Meinungsäußerung und Freiheit, unabhängig davon, wer wir sind, woher wir kommen und wohin wir uns bewegen. Inspiriert wurde ich zu meiner Komposition von einem Foto, das Victoria Khaliullina gemacht hat. Darauf sind Tausende von Demonstranten zu sehen, die von der russischen Polizei auf einen zugefrorenen Teich getrieben wurden. Am unteren Bildrand befindet sich ein Kunstwerk der Straßenkünstlerin Tima Radya, das besagt: »Was sind wir? Woher kommen wir? Wohin gehen wir?« Die Arbeit von Tima Radya wurde im Jahr 2017 installiert und steht in symbolischem Zusammenhang mit dem politischen Protest zur Unterstützung von Alexey Navalny, der zum Zeitpunkt der Aufnahme dieser Fotografie am 31. Januar 2021 in Jekaterinburg, Russland, festgehalten wurde. Am 7. März 2024 wurde das Kunstwerk von den örtlichen Behörden gewaltsam entfernt.

(Elena Rykova)