One line

Luca Francesconi: Herzstück

für Vokalensemble nach einem Text von Heiner Müller

(2012)

Heute reicht die vage anarchische und surrealistische Erkundung des Textraums, von der so viele der vokalen Werke der historischen Avantgarde getragen wurden, nicht mehr aus. Die große Veränderung besteht darin, dass es heute keine feste Bedeutungsschwelle mehr gibt, die wir überschreiten oder gar dekonstruieren können: eine klare Sinngrenze vor oder nach dem Verschwinden des Wortes.

 

Die vielgestaltige Klangfülle, aus der menschliche Worte entstehen, ist nicht mehr klar vom Lärm der Welt zu unterscheiden. Denn es ist das Wort selbst, das zum Lärm geworden ist, sein Sinn ist verloren gegangen. Die gewaltsame und ständig zunehmende Informationsüberflutung, die uns seit mehr als 20 Jahren überschwemmt, hat nicht nur jede Wertigkeit, jede Qualität zerstört, sondern auch die Zuschreibung einer gemeinsamen Bedeutung. Alles ist dasselbe wie alles andere, so scheint es jetzt. Die Nivellierung aller Eigenschaften ist unglaublich grob, gewalttätig und krass. Natürlich können wir dies als Scheitern, als den totalen Verfall einer Zivilisation empfinden. Vielleicht sind wir immer noch in einer Masse vonviel zu vielenbequemen Gewissheiten verankert.

 

Anstatt sich mit einem Archiv archäologischer Dogmen auseinanderzusetzen, ist es anregender, die Herausforderung anzunehmen und einen Text zu verwenden. Ich bin davon überzeugt, dass es unerlässlich ist, die Sprache jenseits des Phonems zu erforschen, innerhalb ihrer semantischen und »heiligen« Matrix, mit dem Menschen in Fleisch und Blut in der Welt. Denn wir sind dabei, sie zu verlieren. Luca Francesconi (2012)

 

 

Herzstück

 

EINS Darf ich Ihnen mein Herz zu Füßen legen.

ZWEI Wenn Sie mir meinen Fußboden nicht schmutzig machen.

EINS Mein Herz ist rein.

ZWEI Das werden wir ja sehn.

EINS Ich kriege es nicht heraus.

ZWEI Wollen Sie, daß ich Ihnen helfe.

EINS Wenn es Ihnen nichts ausmacht.

ZWEI Es ist mir ein Vergnügen. Ich kriege es auch nicht heraus.

EINS heult.

ZWEI Ich werde es Ihnen herausoperieren. Wozu habe ich ein Taschenmesser. Das werden wir gleich haben. Arbeiten und nicht verzweifeln. So, da hätten wirs. Aber das ist ja ein Ziegelstein. Ihr Herz ist ein Ziegelstein.

EINS Aber es schlägt nur für Sie.

 

Heiner Müller (Berlin, 1983)