One line

Unsuk Chin: Cantatrix Sopranica

für zwei Soprane, Countertenor und Ensemble

(20042005)

Der Titel ist Programm. Ich fand ihn in »Das Soprano-Project. De Iaculatione Tomatonis (in cantatricem)«, einer 1974 erstmals in England erschienenen Nonsense-Abhandlung des wunderbaren französischen Dichters polnisch-jüdischer Abstammung Georges Perec. Mit Perec und den Oulipisten (von ouvroir de littérature potentielle), jener Gruppe von post-dadaistischen Dichtern um Perec, Calvino und Queneau, verbindet mich die Lust am Sprachspiel, an Anagrammen, Palindromen und Akrostichen, wie ich sie auch in früheren Kompositionen als Textgrundlage verwendet habe.

Gedichte in Musik zu setzen, die konkrete Inhalte oder Gefühle transportieren, behagt mir nicht sonderlich. Musik und Literatur sind stark eigengesetzliche »Sprachen« die sich in ihrer Verbindung nicht selten gegenseitig im Wege stehen. Der Vorteil der Kombinatorik experimenteller Lyrik ist in meinen Augen (und Ohren) nicht nur ihr Mangel an konkretem Sinn und »Botschaften«, sondern vor allem ihre Nähe zu kompositorischen Verfahrensweisen. Ein »boule de neige« etwa (ein nach dem Schneeballprinzip kontinuierlich aus einer kleinen, »proto-semantischen« Zelle anwachsender Text, der im Wachsen chamäleonartig seine Bedeutung variiert) ist in sich schon ein musikalischer Vorgang durch das »Auffächern« von klanglichem Material im zeitlichen Verlauf. Was mich weiterhin mit diesen Wortkünstlern verbindet, ist die Selbstreferenzialität ihrer Sprachspiele, aber auch der Humor und die Ironie ihrer Kreationen. Außer dem »boule de neige« (Nr. IV) von Harry Mathews verwende ich allerdings keine weiteren Texte von »Oulipisten«. Vier der acht Texte wurden von mir selbst während des Kompositionsprozesses entwickelt, Nr. II entstand in Anlehnung an eine Idee von Gertrude Stein, Nr. V ist eine ins Italienische übertragene Bearbeitung eines Gedichtes aus dem Phantasus-Zyklus (1898/99) des Berliner Dichters Arno Holz (der einige Avantgardismen des 20. Jahrhunderts vorausnahm), und Nr. VI beruht auf einem chinesischen Text aus der Tang Dynastie (7.-10. Jahrhundert), der allerdings weniger auf seiner semantischen als klanglichen Ebene Verwendung fand.

Cantatrix sopranica ist ein selbstreferenzielles Stück, und dies auf verschiedenen Ebenen. Zum einen geht es inhaltlich um das Singen selbst (vor allem in N. I, II, V und VIII), um die spezifischen Befindlichkeiten von Sängern, ihre Tricks und Ticks vom Einsingen bis zur Selbstdarstellung auf (und hinter) der Bühne. Es geht um musikalische Phänomene oder Prozesse, die in der Sprache reflektiert werden und umgekehrt (III und VII). Ein hybrider onomatopoetischer Einfall etwa wie »Cis n’est pas Ces« hatte fatale Folgen für das musikalische Material, wie die Musiker bestätigen werden. Es geht aber auch um das Spiel mit musikalischen Sprachen der Vergangenheit, um Gesangs-»Techniken«, die zum Selbstzweck geraten, und um idiomatische Klischees nicht nur europäischer Musik (V und VI). Gesang und instrumentales Spiel interagieren, es kommt zu Rollenspiel und manchmal sogar Rollenwechsel zwischen Sängern und Musikern. Ich bemühe mich auch in diesem Stück um eine größtmögliche Symbiose von sprachlichen und klanglichen Prozessen, und hatte dabei die hoffentlich nicht unlautere Absicht, das Publikum nicht nur zu unterhalten, sondern auch zu amüsieren. Das Stück ist nicht frei von musikalischen Eulenspiegeleien, die, wie man weiß, durchaus bedrohliche Züge annehmen können. In diesem Sinne sehe ich mich in einer Linie mit Rossini und Ligeti.

 

Unsuk Chin, April 2005